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Notfallszenarien
- Welche und wie viele radioaktive Stoffe in einem radiologischen Notfall freigesetzt werden können und welche Auswirkungen auf die Umwelt und die Bevölkerung in Deutschland zu erwarten sind, ist abhängig von der Art des Unfalls.
- Mithilfe unterschiedlicher Notfallszenarien kann der radiologische Notfallschutz gezielter geplant werden, indem bestimmte Notfallszenarien als Referenzszenarien für verschiedene mögliche Unfallarten dienen. Für diese werden dann Strategien zum Schutz der Bevölkerung und der Einsatzkräfte entwickelt.
Es gibt unterschiedliche Arten von Unfällen, bei denen radioaktives Material in die Umwelt gelangen kann, zum Beispiel ein Unfall in einem Kernkraftwerk, ein Unfall bei dem Transport radioaktiver Stoffe oder ein Absturz eines Satelliten mit radioaktiven Stoffen an Bord.
Welche und wie viele radioaktive Stoffe freigesetzt werden können und welche Auswirkungen auf die Umwelt und die Bevölkerung in Deutschland zu erwarten sind, ist abhängig von der Art des Unfalls. Die unterschiedlichen Arten von Unfällen werden deshalb in "Notfallszenarien" beschrieben.
Wozu braucht man Notfallszenarien?
Um im Notfall schnell und überlegt handeln zu können, ist die Vorbereitung und Planung sehr wichtig. Mithilfe der unterschiedlichen Notfallszenarien kann der radiologische Notfallschutz gezielter geplant werden, indem für verschiedene mögliche Unfallarten Referenzszenarien definiert werden.
Für jedes dieser Notfallszenarien sind Strategien zum Schutz der Bevölkerung und der Einsatzkräfte entwickelt worden. Das wesentliche Ziel dieser Schutzstrategien ist es, die Strahlenexposition von Mensch und Umwelt bei einem Unfall zu reduzieren. Daher werden für jedes Szenario auch unterschiedliche Maßnahmen empfohlen, um die Bevölkerung bestmöglich zu schützen. Dabei können sowohl Katastrophenschutzmaßnahmen (wie z. B. Evakuierung, Aufenthalt von Menschen in Gebäuden oder die Einnahme von hochdosierten Jodtabletten) als auch Strahlenschutzvorsorge-Maßnahmen (wie z. B. Lebensmittelbeschränkungen) eine Rolle spielen.
Wer hat die Notfallszenarien festgelegt?
Die EU schreibt vor, dass die Notfallschutzplanung ereignis- und szenarienspezifisch sein soll (Richtlinie 2013/59/EURATOM, Anhang XI).
In Deutschland werden die Notfallszenarien und die darauf abgestimmten Schutzstrategien vom Bund festgelegt. Dafür entsteht momentan der allgemeine Notfallplan, mit dessen Verabschiedung als allgemeine Verwaltungsvorschrift die europäische Rechtsvorgabe umgesetzt werden soll.
Die Notfallszenarien gelten als Referenzszenarien. Sie sind Ausgangspunkt, um die radiologischen Auswirkungen des jeweiligen Unfalls abzuschätzen und Schutzstrategien zu planen. In die Schutzstrategien fließen auch aktuelle nationale und internationale Empfehlungen und Konzepte ein.
Die Notfallszenarien
Unfall in einem deutschen KernkraftwerkEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt einen Unfall mit einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in einem deutschen Kernkraftwerk (vor Brennelementefreiheit), dessen radiologische Folgen Katastrophenschutzmaßnahmen und Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen erfordern können.
Dieses Szenario würde auf schwere Unfälle in den deutschen Kernkraftwerken zutreffen, die noch im Nachbetrieb sind.
Unfall in einem Kernkraftwerk im grenznahen AuslandEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt einen Unfall in einem grenznahen Kernkraftwerk, dessen mögliche radiologische Folgen Katastrophenschutzmaßnahmen und Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen auf deutschem Gebiet erfordern können.
Grenznah bedeutet, dass das Kernkraftwerk nicht weiter als 100 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt betrieben wird.
Dieses Szenario würde die Kernkraftwerke
- Tihange (Belgien),
- Cattenom (Frankreich),
- Chooz (Frankreich),
- Leibstadt (Schweiz),
- Beznau (Schweiz),
- Gösgen (Schweiz) und
- Temelin (Tschechien)
betreffen.
Unfall in einem Kernkraftwerk im übrigen EuropaEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt einen Unfall in einem Kernkraftwerk in Europa, das mehr als 100 Kilometer vom deutschen Staatsgebiet entfernt liegt.
Die Wahrscheinlichkeit für Katastrophenschutz- und Strahlenschutzvorsorge-Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung auf deutschem Gebiet ist aufgrund der größeren Entfernung zum deutschen Staatsgebiet geringer, aber bei einem Unfall mit erheblicher Freisetzung nicht ausgeschlossen. Insbesondere Strahlenschutzvorsorge-Maßnahmen im landwirtschaftlichen Bereich können eine Rolle spielen, wie das Beispiel des Unfalls im Kernkraftwerk Tschornobyl (russ.: Tschernobyl) 1986 zeigt, der mehr als 1.000 km entfernt vom deutschen Staatsgebiet geschah.
Dieses Notfallszenario würde Kernkraftwerke in
- Belarus,
- Belgien (außer Tihange),
- Bulgarien,
- Finnland,
- Frankreich (außer Cattenom),
- Niederlande,
- Großbritannien,
- Rumänien,
- Russland,
- Schweden,
- Slowakei,
- Slowenien,
- Spanien,
- Tschechien (außer Temelin),
- Ukraine und
- Ungarn
betreffen.
Unfall in einem Kernkraftwerk außerhalb EuropasEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt einen Unfall in einem Kernkraftwerk außerhalb Europas. Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung auf deutschem Gebiet sind aufgrund der Entfernung ausgeschlossen, auch die Notwendigkeit von Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen besteht nicht.
Es können aber Kontaminationen von Fahrzeugen (Flugzeuge, Schiffe, Kraftwagen) sowie von Personen und Waren, die nach Deutschland gelangen, nicht ausgeschlossen werden. Auch geringfügige Erhöhungen der Aktivitätskonzentration in der Luft in Deutschland sind bei erheblichen Freisetzungen möglich. Deutsche Staatsangehörige im Unfallstaat oder in dessen Nachbarstaaten können betroffen sein, so dass auch über Reisewarnungen entschieden werden muss.
Länder außerhalb Europas mit einer größeren Anzahl von Kernkraftwerken sind
- die USA,
- China,
- Russland,
- Süd-Korea,
- Indien,
- Kanada und
- Japan.
Die Internationale Atomernergie-Organisation (International Atomic Energy Agency, IAEA) veröffentlicht eine Liste der Reaktoren, die sich weltweit in Betrieb befinden.
Unfall in kerntechnischen Anlagen (die keine Kernkraftwerke sind)Einklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt einen Unfall in kerntechnischen Anlagen im Inland oder im Ausland, die keine Kernkraftwerke sind. Dies können zum Beispiel
- Forschungsreaktoren,
- Urananreicherungsanlagen,
- Brennelemente-Fabriken,
- Anlagen zur Isotopenherstellung oder
- Lager mit abgebrannten Brennelementen
sein. Die Auswirkungen sind regional wesentlich stärker begrenzt als bei Kernkraftwerksunfällen. Lokal können Katastrophenschutzmaßnahmen und Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen notwendig sein.
Die freigesetzten radioaktiven Stoffe können sich in Menge und Zusammensetzung deutlich von denen bei Kernkraftwerksunfällen unterscheiden.
Dieses Notfallszenario würde in Deutschland unter anderem auf
- die Brennelement-Fertigungsanlage Lingen,
- die Pilotkonditionierungsanlage Gorleben,
- die Forschungsreaktoren in Garching sowie
- die Urananreicherungsanlage Gronau
zutreffen.
Terroristischer oder anderweitig motivierter AnschlagEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt einen terroristischen Anschlag unter Verwendung radioaktiver Materialien im Inland. Die Folgen sind lokal begrenzt, können aber kleinräumig sowohl Katastrophenschutzmaßnahmen als auch Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen erforderlich machen.
Die freigesetzten radioaktiven Stoffe können sehr unterschiedlich sein. Wenn es zu einer Freisetzung kommt, erfolgt diese wahrscheinlich schnell und ist von relativ kurzer Dauer. Ein Beispiel für dieses Notfallszenario ist die sogenannte "schmutzige Bombe".
TransportunfallEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt einen Unfall beim Transport von radioaktiven Stoffen, bei dem diese freigesetzt werden (zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall). Die Folgen sind eher lokal begrenzt.
Die freigesetzten radioaktiven Stoffe können je nach Transportgut sehr unterschiedlich sein und reichen von Material, das für medizinische Zwecke benötigt wird, bis hin zu Castor-Transporten abgebrannter Brennelemente. Wenn es zu einer Freisetzung aufgrund eines Unfalls während des Transports von radioaktiven Stoffen kommt, erfolgt diese wahrscheinlich schnell und ist von relativ kurzer Dauer.
Herrenlose Quellen, offene radioaktive StoffeEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt das Auffinden einer herrenlosen (nicht registrierten) radioaktiven Quelle oder Unfälle beim Umgang mit radioaktiven Stoffen.
Auch das versehentliche Einschmelzen von radioaktiven Quellen fällt in dieses Notfallszenario.
Bei diesen Ereignissen sind die Folgen sehr kleinräumig, typischerweise sind weder Katastrophenschutzmaßnahmen noch Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen erforderlich.
SatellitenabsturzEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt einen Absturz von Satelliten mit nuklearem oder radiologisch relevantem Material. Etwa 50 solcher Satelliten befinden sich in der Erdumlaufbahn. Die radioaktiven Stoffe befinden sich in kleinen Kernreaktoren oder in Radioisotopenbatterien an Bord und dienen der Energieversorgung.
Trotz Sicherheitsvorkehrungen bei Satelliten mit nuklearem oder radiologisch relevantem Material kam es in der Vergangenheit vereinzelt zu Abstürzen, die Kontaminationen im mitunter relativ großen Absturzgebiet zur Folge hatten. Ein Satellitenabsturz über Deutschland ist sehr unwahrscheinlich. Moderne Satelliten werden normalerweise gezielt über dem Pazifik in Bereichen mit wenig Schiffsverkehr zum Absturz gebracht.
Stürzt ein Satellit über Land ab, ist es unwahrscheinlich, dass eine große Anzahl von Personen erhöhter Strahlung ausgesetzt ist. Vermehrter externer Gamma- und Betastrahlung von abgelagerten radioaktiven Teilen wären nur Personen ausgesetzt, die sich längere Zeit in der Nähe von Partikeln aus dem Reaktorbrennstoff aufhalten oder direkten Körperkontakt mit solchen Teilchen haben.
Unklare SituationEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt den Fall, wenn Meldungen, Gerüchte oder erhöhte radiologische Messwerte mit ungeklärtem Ursprung auf eine Freisetzung zum Beispiel durch einen Unfall in einer kerntechnischen Anlage hindeuten, die Informationen jedoch nicht bestätigt worden sind.
In dieses Notfallszenario fällt zum Beispiel die Messung von Ruthenium-106 an zahlreichen Messstellen in Europa Anfang Oktober 2017.
Nuklearwaffen-ExplosionEinklappen / Ausklappen
Dieses Notfallszenario beschreibt Notfälle, die im Zusammenhang mit der Explosion einer Nuklearwaffe stehen, insbesondere unfallbedingte und vorsätzliche Ereignisse mit kriminellem oder terroristischem Hintergrund.
Nuklearwaffen sind Massenvernichtungswaffen, in denen radioaktive Stoffe genutzt werden, um eine starke Explosion zu erzeugen. Kommt es zu einer solchen Explosion, können Nuklearwaffen aufgrund von Kernspaltungs- oder Kernfusionsprozessen neben radioaktiven Stoffen und Strahlung eine enorme Energie freisetzen. Letzteres geschieht in Form einer Explosionswirkung, die aus einem Lichtblitz mit anschließender Druck- und Hitzewelle sowie einem nuklear-elektromagnetischen Puls besteht, der elektronische Geräte stören bzw. zerstören kann.
Über welche Entfernungen eine Nuklearwaffen-Explosion wirken kann, ist vor allem abhängig von
- der Sprengkraft der Nuklearwaffe (TNT-Äquivalent),
- der Explosionshöhe (am Boden oder in der Luft).
Die infolge der Explosion freigesetzten radioaktiven Stoffe können in Menge und Art sehr unterschiedlich sein. In der Regel werden sie sehr schnell und nur relativ kurz freigesetzt (explosionsartig). Wie weit sie nach der Explosion in der Umwelt verteilt werden können, ist auch abhängig von der aktuellen Wetterlage (Wind und Niederschlag).
Neben den Folgen der eigentlichen Explosion können auch die radiologischen Folgen für die Umwelt und für den Menschen verheerend sein. Im August 1945 wurden in Hiroshima und Nagasaki zum ersten und bisher einzigen Mal Atomwaffen in einem militärischen Konflikt eingesetzt.
Stand: 12.10.2023